11 September 2006

9/11-Verschwörungen - es reicht


Quelle: KidneyNotes (cc)

Passend zum 5. Jahrestag gibt es an dieser Stelle keine ausgefeilte Beschäftigung mit den unzähligen 9/11-Verschwörungen en detail, die inzwischen das Internet kolonisiert haben und von dort aus ab und zu ihren Weg in die etablierten Medien schaffen. Keine ausführlichen Kommentare zu den aktuellen Verschwörungsmoden oder den abstrusen und verqueren Forums-Beiträgen bei einem vom heise-Verlag verantworteten Kasperletheater-Magazin, kein eigener Kommentar zum Teenie-Streifen "Loose Change" (wer kritisch einsteigen will, findet hier schon genügend Stoff zum Nachdenken). Nur einen Verweis auf diesen Cartoon will ich mir nicht ersparen.

Es bringt schlicht und ergreifend nichts.

Jede Generation hat seit der französischen Revolution ihre typische politische Verschwörungstheorie und muss irgendwie damit klarkommen. Freimaurer, Illuminaten, Weltjudentum, Schwarze, Weiße, Militärs, Geheimdienste, Außerirdische usw. In früheren Zeiten beschäftigte man sich mit der Ermordung Martin Luther Kings, Marylin Monroes Tod, dem Attentat auf John F. Kennedy, dem Ufo-Absturz bei Roswell, in Deutschland mit der RAF und der angeblichen Ermordung einiger Top-Terroristen durch den Staat in Stammheim - einer der damaligen Verschwörungstheoretiker wurde bekanntlich späterer deutscher Innenminister -, der Ermordung Uwe Barschels und Olof Palmes, der Entstehung von AIDS, dem Tode des 33-Tage-Papstes Johannes Pauls I. und dem Attentat auf seinen Nachfolger und die Rolle östlicher Geheimdienste, dem Flugzeugabsturz bei Ustica, der Tod Lady Dianas usw.

Politische Extremisten von Links und Rechts waren schon immer daran interessiert, "hinter die Kulissen der Weltpolitik" zu schauen und ihrem zumeist belanglosen Leben und ihrer politischen Insignifikanz einen Sinn zu geben. Inzwischen gibt es das Internet, was nicht nur jedem Wirrkopf eine Plattform bietet, sondern auch kulturelle Eigenheiten, ohne die man von einer neutralen Warte aus die Entstehung von Verschwörungen gar nicht angemessen nachvollziehen kann, komplett einebnet. So ist das in den USA weit verbreitete Misstrauen gegenüber einer fernen Regierung und der Lobpreisung des Individualismus nicht nur dafür verantwortlich, dass man lieber auf bessere Sozialleistungen und ein abgesichertes Leben verzichtet, sondern auch der Quell für vielerlei Regierungs-Verschwörerisches. Eine gewisse Klientel von zumeist männlichen, jugendlichen und äußerst technik- und naturwissenschaftlich affinen Hobbyanalysten ist neu hinzugetreten und erweitert mit ihrer sehr einseitigen analytischen Weltsicht und sozialwissenschaftlich mehr als naiven Erklärungsansätzen die Szene.

Wie gesagt, alles Aufklären hilft nicht. Man muss selbst einsehen, wie problematisch die meisten dieser Theorien sind und, vor allem, warum sie so verdammt überzeugend und intellektuell faszinierend sein können. Den Weg dahin muss jeder selbst gehen, in dem er versucht, aller Begeisterung zum Trotz eine möglichst neutrale Position im Kopf zu behalten, und die richtigen Fragen stellt.

Nur einige Denkansätze:
  • Die meisten Verschwörungstheoretiker beschäftigen sich primär damit, wie wahrscheinlich die sog. "offizielle" Darstellung eines Ereignisses ist und stellen sehr schnell fest, dass einige Merkwürdigkeiten auftauchen, worauf sie sich auf die Suche nach Alternativerklärungen machen, die plötzlich deutlich besser "passen". Und sie eröffnen neue Möglichkeiten, was "wirklich" hinter einem Ereignis steckt; bohrt man weiter nach, dann passen auf einmal weitere Mosaikstücke zusammen usw. Man erlebt so bei der eigenen Recherche ein faszinierendes Evidenz-Erlebnis. Dieses wird im Lauf der Zeit immer stärker, weil die weitere Beschäftigung mit alternativen Erklärungen zu immer neuen Querverbindungen, Personen und Ereignissen führt und die Verschwörung anscheinend immer komplexer und bedrohlicher wird. Gleichzeitig stützen diese neuen Befunde anscheinend die bisherigen Vermutungen.
    Das Problem an dieser Herangehensweise ist fundamental für die Beschäftigung mit Verschwörungstheorien: Die subjektive Plausibilität und Überzeugung von Verschwörungen hat nichts mit ihrer Wahrscheinlichkeit zu tun. Jede "offizielle" Darstellung besitzt immer und überall Fehler, ist unvollständig oder wirft Fragen auf, nur bemerken wir diese Fehler normalerweise nicht, weil wir nicht genauer hinschauen. Auf der Basis dieser "Fehler" gefundene Alternativerklärungen sind dann selbstverständlich deutlich plausbiler als die ursprüngliche, was aber erst einmal nur daran liegt, dass sie auf der Basis der realen Ereignisse aufgebaut sind. Für eine realistische Abschätzung müsste man aber berücksichtigen, wie wahrscheinlich das konstruierte Szenario tatsächlich war, wie fehlertolerant seine Durchführung, wie wahrscheinlich seine vorzeitige Entdeckung usw. Das geschieht so gut wie nie.
  • Einer der Gründe hierfür liegt in dem völligen Fehlen von empirischem Wissen über die Arbeitsweise und die Fähigkeiten von Regierungen, Militärs oder Geheimdiensten. Diese sind in den meisten Verschwörungstheorien omnipotent und können alles, können jeden mundtot machen usw. Das ist natürlich völliger Unsinn, wenn man sich die realen politischen Ereignisse ansieht, in denen sie verwickelt sind oder selbst einmal in einer Behörde gearbeitet hat. Der Witz ist: Diese Omnipotenz ist eine zwingende Folge der methodischen Vorgehensweise, sich "seine" Theorie auf der Basis der realen Ereignisse zu konstruieren. Man "deckt" nicht im Laufe der Zeit die realen Abläufe auf, sondern konstruiert sich eine immer komlizierter werdende Story, in der die beteiligten Akteure immer verbogener und mächtiger werden müssen.
  • Ein damit zusammenhängendes Problem besteht in der Mehrdeutigkeit von Handlungen. Die meisten "Forscher" interpretieren das Verhalten von Akteuren wie Regierungen, Geheimdiensten usw. in ihrem Sinne und bauen darauf ihre Kritik auf. Aber eine Handlung kann viele Gründe haben. Sucht man nach Bestätigungen, dann darf man sich nicht alleine auf bestätigende Handlungen verlassen. Wenn ein Geheimdienst Seiten in einem Bericht schwärzt, dann ist das nur dann verräterisch, wenn man nicht weiß, dass er das üblichwerweise immer und überall tut. Auch hier ist es wichtig, die logischen Schlüsse aus den vermuteten Gründen zu ziehen und nach möglichen Handlungen zu suchen, die diesen Gründen und Absichten entsprechen oder widersprechen würden.
  • Die wenigsten "Laienforscher" haben jemals in ihrem Leben selbst anspruchsvoll geforscht und die Erfahrung gemacht, wie umstritten üblicherweise historische Vorgänge in der akademischen Forschung sind, wie lange es dauert, bis sich hier ein Konsens bildet, wie verdammt mühsam die Recherchen und Debatten zu einem Thema sind, wie man kritisch mit Quellen umgehen muss, welche Fallstricke hier lauern, wie unheimlich stark die Selbsttäuschung ist, wie viele unterschiedliche Meinungen es immer gibt, wie so gut wie alles hinterfragt werden kann usw. Der Eindruck von simplem Schulbuchwissen, nach dem es immer und überall eine "offensichtliche" Deutung von Ereignissen gibt - eine Wahrheit, die "da draußen" ist - ist komplett naiv - die Debatten, die zu diesem Wissen geführt haben, finden sich nicht in Schulbüchern. Das wichtigste Verfahren zur Wahrheitsfindung ist deswegen ausdrücklich nicht eine möglichst engagierte Herangehensweise, sondern die möglichst häufigste Kritik mit den möglichst schärfsten Kritikern.
  • Die Frage nach der Plausibilität einer Verschwörung ist wenig hilfreich. Es geht nicht darum, was alles noch für eine Verschwörung sprechen würde, sondern was deutlich dagegen! Den meisten "Forschern" ist gar nicht bewusst, dass sie faktisch immer mit allen möglichen zukünftigen Entwicklungen leben können, weil diese mit ihrer Verschwörung vereinbar sind. Somit stützen sie auf jeden Fall ihre Ansichten, bringen sie aber den tatsächlichen Ereignissen keinen Schritt weiter. Erst wenn klar ist, was einen Verschwörungstheoretiker dazu bringen würde, seine eigenen Ansichten zu verwerfern, dann kann er in diese Richtung seine Anstrengungen bündeln.
  • Kritiken in Medien an Verschwörungstheorien sind meistens deswegen unglaubwürdig, weil sie deutlich einfacher gestrickt sind als die eigentlichen komplizierten und wohldurchdachten Theorien. Solche Beiträge sind oft sehr simpel, gehen nicht auf Details ein und nehmen meistens die Autoren nicht ernst oder unterstellen ihnen politische Radikalität. Das ist psychologisch verständlich, aber die Wahrheit einer Behauptung hat nichts mit dem psychologischem Gefühl von Komplexität zu tun. Journalisten, die wenig Sinn in der ernsthaften Beschäftigung mit einem Thema sehen, schreiben schlechte Artikel. Das ist bedauerlich, aber daraus den Schluss zu ziehen, das würde die Verschwörung an sich stützen, ist komplett unzulässig.

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