31 August 2006

USA so sozial wie Schweden?


Quelle: Big-E-Mr-G (cc)

Amerikanische Kommentatoren in den Medien haben den denkbar schlechtesten Ruf. Und das aus gutem Grund. Eine bizarre Mischung aus arroganter Überheblichkeit und Universaldilettantismus sorgt dafür, dass Leser oft genug für dumm verkauft werden. Die Wahrheit interessiert da wenig, politischer Standpunkt und das Frisieren von Fakten sind Trumph.

Ein schönes Beispiel dafür, wie jeder Möchtegern-Manipulator Meinungen bewusst oder unbewusst kreieren kann, liefert Tim Worstall. Er beschäftigt sich mit dem Report “The State of Working America” (PDF) des Economic Policy Institute, in dem es um die sozialen Unterschiede in verschiedenen Ländern im Vergleich zu den USA geht. Das Ergebnis des EPI-Reports ist verheerend. Die USA sind in vielen sozialen Bereichen das absolute Schlusslicht, etwa was die Gesundheitsversorgung, Armut von Kindern, Arbeitszeiten usw. angeht. Nirgends in Europa ist die Kluft zwischen Arm und Reich so groß wie in den USA. Wahrlich nichts neues, aber das bekommt man halt für einen Kapitalismus in Reinkultur, und dies wird seitenlang und sehr ausführlich dokumentiert.

Nun hat Worstall beim Überfliegen des Dokuments eine brisante Entdeckung gemacht, die er seinen wirtschaftsliberalen Lesern sofort mitteilen muss. Alles halb so wild - die Armen in den USA sind genauso reich wie diejenigen in Schweden. Da reibt man sich natürlich erst einmal die Augen, vor allem, wenn man sich den Bericht tatsächlich selbst durchgelesen hat (was sämtliche eifrig zustimmenden Kommentatoren auf seiner Homepage natürlich nicht gemacht haben, warum auch die Fakten lesen?). Kern seiner Argumentation ist eine einzige aus dem Zusammenhang gerissene Grafik (Quelle: EPI-Report, S. 24):

Eingetragen ist hier der US-Einkommensmedian (mittels Kaufkraftparität genormt), also das "mittlere" Einkommen, das von 50 % der US-Amerikaner unterschritten bzw. übertroffen wird. Um die Verteilungen zu berücksichtigen, greift man jetzt auf Perzentile zurück. Ein "armer" Bürger ist jemand, der soviel Einkommen besitzt, dass 10 % der nach Größe geordneten Einkommen unter diesem Betrag liegen und 90 % darüber (10-Perzentil), umgekehrt ist ein "reicher" Bürger jemand mit einem Einkommen, dass größer ist als 90 % der Einkommen in einem Land, wobei nur 10 % noch größer sind (90-Perzentil). "Arme" Bürger besitzen nun in den USA ein Einkommen, was 39 % des US-Einkommensmedians beträgt, in Finnland und Schweden sind es 38 % des US-Einkommensmedians.

Was folgt nun daraus? Nach Meinung von Worstall Folgendes:
"The standard of living of the poor in a redistributionist paradise like Finland (or Sweden) seems a fair enough number to use and the USA provides exactly that. Good, the problem's solved. We've provided -- both through the structure of the economy and the various forms of taxation and benefits precisely what we should be -- an acceptable baseline income for the poor."
Natürlich ist das so völliger Quatsch. Richtig ist, dass die USA als Wirtschaftsmacht Nr. 1 ein deutlich höheres Durchschnittseinkommen besitzen als die meisten anderen Staaten, so betrug das mittels Kaufkraftparitäten normierte Durchschnittseinkommen der USA 2004 laut dem Bericht 39.728$, in Deutschland betrug es nur 28.565$, in Schweden 31.801$ und in Finnland 30.50$. Das Medianeinkommen ist dabei übrigens immer selbstverständlich deutlich niedriger. Aber daraus direkt zu folgern, wie gut es Menschen mit einem bestimmten Einkommen in einem jeweiligen Land geht, ist schon deshalb unzulässig, weil etwa Bildung, Gesundheit, Rente, Arbeitslosigkeit usw. je nach Sozialsystem unterschiedlich stark vom eigenen Einkommen bezahlt werden müssen, und die Qualität dieser Sozialleistungen je nach Finanzierung völlig unterschiedlich sein kann. Die Autoren des Berichts erklären auf der nächsten Seite extra (S. 25):
"Four countries—Australia, the United Kingdom, Finland, and Sweden—had household income at the 10th percentile, close to the 39% of the U.S. median. To the extent that these countries provide more social and economic support to their citizens than the United States, these numbers provide a somewhat incomplete comparison regarding the living standards of low-income people. Further in this chapter are figures regarding transfers and social spending, specifically regarding child poverty (Figures 8G and 8H) and health care (Figure 8I). Not surprisingly, high-income households were much better off in the United States (210% of the median income) than in the rest of the countries."
Und da sieht es dann wahrlich gruselig aus:
  • Poverty: the United States has highest levels (z.B.: "The United States stands out as the country with the lowest expenditures and the highest child poverty rate.")
  • Health care: a problem of distribution in the United States (z.B.: "In 2004, about 16% of people in the United States did not have any form of health care insurance coverage.")
Man fragt sich hier schon, ob der Autor überhaupt weiß, wie Sozialstaaten funktionieren. Vermutlich nicht. Problem gelöst? Bei solch trüben Aussichten versteht man schon, warum Politclowns wie Worstall die triste Empirie selektiv präsentieren und dreist in ihrer Interpretation verfälschen müssen. Aber das sollen ja auch schon amerikanische Präsidenten gemacht haben...

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